Alle vielzelligen Lebewesen sind von einer unvorstellbar großen Anzahl von Mikroorganismen besiedelt und haben sich in ihrer Entstehungsgeschichte von Beginn an gemeinsam mit diesen mikrobiellen Symbionten entwickelt. Das natürliche Mikrobiom, also die Gesamtheit der Bakterien, Viren und Pilze, die in und auf einem Körper leben, ist von zentraler Bedeutung für den Gesamtorganismus: Es unterstützt beispielsweise bei der Nährstoffaufnahme, wehrt Krankheitserreger ab und kann zugleich an der Entstehung schwerwiegender Krankheiten beteiligt sein.
Um die hochkomplexen Interaktionen von Wirtslebewesen und
Mikroorganismen zu entwirren und bestimmte Wirkmechanismen aus ihnen
herauslesen zu können, verwenden Forschende sogenannte Modellsysteme.
Dies sind zum Beispiel Tier- und Pflanzenarten, die sich gut und einfach
im Labor untersuchen lassen, und eine bestimmte, vereinfachte Auswahl
an besiedelnden Mikroorganismen.
Ein Forschungsteam von der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) schlägt nun gemeinsam mit
internationalen Expertinnen und Experten unter anderem von der
University of California in Berkeley und dem Baylor College of Medicine
in Houston ein neuartiges, verbessertes Modellsystem für die
Mikrobiomforschung vor, die sogenannte ‚Caenorhabditis elegans
Mikrobiom-Ressource’ (CeMbio). Es basiert auf einer methodisch
handhabbaren, aber dennoch naturnahen Zusammensetzung eines
Fadenwurm-Mikrobioms. Künftig soll es realistischere
Mikrobiomuntersuchungen in einer Vielzahl von Forschungsfeldern erlauben
und zugleich die Vorzüge des in der Biologie häufig genutzten
Fadenwurms C. elegans als Modellorganismus für die Mikrobiomforschung
demonstrieren. Das CAU-Forschungsteam aus der Arbeitsgruppe
Evolutionsökologie und Genetik unter Leitung von Professor Hinrich
Schulenburg wie auch der Arbeitsgruppe Medizinische Systembiologie von
Professor Christoph Kaleta stellte die Grundzüge dieses neuen
Modellsystems kürzlich in der Fachzeitschrift G3: Genes Genomes Genetics
vor.
Ein naturnahes Fadenwurm-Mikrobiom
Ausgangspunkt
für das CeMbio-Projekt war eine Vorgängerarbeit der Kieler Forschenden,
in der sie erstmals die natürliche Bakterienbesiedlung des sonst
zumeist unter keimfreien Bedingungen untersuchten Fadenwurms C. elegans
bestimmten. So gelang es ihnen, die Auswirkungen des natürlichen
Mikrobioms auf Lebensfunktionen und Fitness des Wurms zu untersuchen.
Die damals in ihrer Gesamtheit identifizierten Bestandteile des
Fadenwurm-Mikrobioms grenzten sie nun auf zwölf charakteristische
einzelne Bakterienarten ein, die gewissermaßen jederzeit in allen
Würmern zu finden sind. Mit ihnen führten die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler verschiedene Besiedlungs-Experimente im Darm des Wurms
durch. „Diese Bakterien haben wir einzeln in Reinkultur und in
Mischkulturen in keimfreie Würmer übertragen und anschließend ihr
Wachstum beobachtet“, sagt Erstautor Dr. Philipp Dirksen, ehemaliger
wissenschaftlicher Mitarbeiter in Schulenburgs Gruppe. „Auf diese Weise
konnten wir beobachten, wie sich die Fähigkeit einzelner Bakterien zur
Ansiedlung und die Beziehung der verschiedenen Bakterien zueinander in
der natürlichen Wirtsumgebung verhalten“, so Dirksen weiter.
In
einem zweiten Teil der Arbeit rekonstruierten die Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler anhand der genetischen Signaturen aller im Mikrobiom
vorhandenen Organismen, welche metabolischen Netzwerke darin vorhanden
sind. Sie konnten also mittels bioinformatischer Methoden vorhersagen,
welche potenziellen Kreisläufe von Stoffwechselprodukten möglicherweise
zwischen Wirt und Mikrobiom existieren. Insgesamt schufen sie so die
Grundlagen, um ein realitätsnahes Mikrobiom-Modell zur detaillierten
Erforschung von Wirts-Bakterienbeziehungen in C. elegans zu schaffen.
Ein Open Source Mikrobiom-Modell
Mit
dem CeMbio-Modell wollen die Kieler Forschenden eine für Kolleginnen
und Kollegen in der C. elegans-Forschung weltweit öffentlich zugängliche
Ressource schaffen. Neben den unter Laborbedingungen leicht zu
kultivierenden Bakterienstämmen gehören dazu auch deren vollständig
entschlüsselte Erbinformationen sowie die vollständigen Modellierungen
der metabolischen Netzwerke innerhalb ihres Mikrobioms. Damit steht der
internationalen Forschungsgemeinschaft ein neuartiger Baukasten zur
Verfügung, mit dem sich beispielsweise vom Wachstum bis zur Entwicklung
zahlreiche Aspekte der Fadenwurm-Biologie im Zusammenhang der
Interaktionen mit seinem natürlichen Mikrobiom untersuchen lassen. „Mit
unserem CeMbio-Modell wollen wir die Tür zu einem breiten Spektrum von
interessanten Forschungsfragen von der Krankheitsentstehung über die
Biologie des Alterns bis hin zu neurobiologischen Aspekten aufstoßen“,
betont der Kieler Evolutionsbiologe Schulenburg, Leiter des Kiel
Evolution Center (KEC) an der CAU. „Die Möglichkeit, die damit
verbundenen Prozesse im Zusammenspiel des natürlichen Mikrobioms zu
erforschen, bietet dabei völlig neue Perspektiven für das Verständnis
der zugrundeliegenden Mechanismen“, so Schulenburg weiter.
Zusätzlich,
so hoffen die Kieler Forschenden, helfe das neue Werkzeug auch dabei,
C. elegans stärker als bisher als Modellsystem für die
Mikrobiomforschung zu etablieren. Insgesamt steht Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern weltweit mit CeMbio eine neuartige Ressource zur
Verfügung, um ihre Arbeit künftig nach ökologischen und evolutionären
Kriterien realitätsnäher zu gestalten. Damit liefert die Arbeit einen
wichtigen Beitrag, um insgesamt das Verständnis der Mechanismen zu
verbessern, mit denen das Mikrobiom Gesundheit und Krankheit seines
Wirtslebewesens beeinflusst, so wie dies mehrere Kieler
Forschungsverbünden verfolgen, zum Beispiel der Sonderforschungsbereich
1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ oder der
Exzellenzcluster „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI).
Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (09/2020)
Publikation: Philipp
Dirksen, Adrien Assie?, Johannes Zimmermann, Fan Zhang, Adina-Malin
Tietje, Sarah Arnaud Marsh, Marie-Anne Fe?lix, Michael Shapira,
Christoph Kaleta, Hinrich Schulenburg and Buck Samuel (2020): CeMbio -
The Caenorhabditis elegans microbiome resource. G3: Genes Genomes
Genetics https://doi.org/10.1534/g3.120.401309