Ein internationales Team berichtet in einer neuen Studie über das älteste mitochondriale Genom eines Neandertalers aus Mittelosteuropa. Das aus einem Zahn aus der Stajnia-Höhle in Polen extrahierte mitochondriale Genom ähnelt eher dem eines Neandertalers aus dem Kaukasus als den zur damaligen Zeit in Westeuropa lebenden Neandertalern. Auch die am Fundort entdeckten Steinwerkzeuge ähneln denen aus südlichen Gebieten, was darauf hindeutet, dass in der Steppen-/Taiga-Umgebung lebende Neandertaler sich zur Nahrungssuche weiter von ihrem Heimatgebiet entfernten als bisher angenommen.
Vor etwa 100.000 Jahren verschlechterte sich das Klima schlagartig,
und die Umwelt Mittelosteuropas änderte sich von bewaldeten hin zu
offenen Steppen/Taiga-Lebensräumen, was die Ausbreitung von Wollmammut,
Wollnashorn und anderen an die Kälte angepassten Arten aus der Arktis
begünstigte. Die Populationsgröße der in diesen Gebieten lebenden
Neandertaler ging aufgrund der neuen ökologischen Bedingungen stark
zurück und Neandertaler kehrten erste wieder in die Gebiete oberhalb des
48° nördlichen Breitengrades zurück, als die klimatischen Bedingungen
sich wieder verbessert hatten.
Trotz der nicht durchgängigen
Besiedlung blieb das Micoqiuen mit seinen typischen bifazialen
Steinwerkzeuge in Mittelosteuropa vom Beginn dieser ökologischen
Verschiebung bis zum Untergang der Neandertaler bestehen. Diese
kulturelle Tradition verbreitete sich in der frostigen Landschaft
zwischen Ostfrankreich, Polen und dem Kaukasus. Erste genetische
Analysen haben gezeigt, dass zwei wichtige demografische Wendepunkte in
der Geschichte der Neandertaler mit dem Micoquien verbunden sind. Vor
etwa 90.000 Jahren ersetzten westeuropäische Neandertaler die lokale
Bevölkerung der Altai-Neandertaler in Zentralasien und vor mindestens
45.000 Jahren ersetzten westeuropäische Neandertaler nach und nach die
im Kaukasus lebenden Gruppen.
In der Fachzeitschrift Scientific
Reports veröffentlichten Forschende des Max-Planck-Instituts für
evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der Universität Wroc?aw, des
Instituts für Systematik und Evolution der Tiere der Polnischen Akademie
der Wissenschaften und der Universität Bologna das älteste
mitochondriale Genom eines Neandertalers aus Mittelosteuropa. Das
molekulare Alter von etwa 80.000 Jahren verankert den Zahn aus der
Stajnia-Höhle in einer wichtigen Zeitperiode der Neandertaler, die durch
eine extreme Saisonalität gekennzeichnet war und in der einige
Neandertalgruppen ostwärts nach Zentralasien gezogen sind. „Polen, an
der Kreuzung zwischen der westeuropäischen Tiefebene und dem Ural
gelegen, ist eine Schlüsselregion um diese Wanderungen zu verstehen und
Fragen zur Anpassungsfähigkeit und Biologie der Neandertaler im
periglazialen Lebensraum beantworten zu können. Der Backenzahn Stajnia
S5000 ist ein wirklich außergewöhnlicher Fund, der ein neues Licht auf
die Debatte zur weiten Verbreitung der Micoquien-Artefakte wirft“, sagt
Andrea Picin, Erstautor der Studie und Postdoc am Max-Planck-Institut
für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Genetische Analysen
Es
gibt nur sehr wenige Überreste von Neandertalern, die mit dem Micoquien
in Verbindung gebracht werden können. Genetische Information wurden
bisher nur aus Proben aus Deutschland, dem Nordkaukasus und dem Altai
gewonnen. „Wir waren uns der geografischen Bedeutung dieses Zahns
bewusst, da er die Verbreitungskarte genetischer Informationen von
Neandertalern erweitert“, sagt Mateja Hajdinjak, Mitautorin der Studie
und Postdoc am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Wir
fanden heraus, dass das mitochondriale Genom von Stajnia S5000 dem von
Mezmaiskaya 1, einem Neandertaler aus dem Kaukasus, am ähnlichsten war.
Wir benutzten dann die molekulargenetische Uhr, umdas ungefähre Alter
dieses neuen Genoms zu bestimmen. Obwohl der Ansatz der molekularen
Astverkürzung mit einer großen Fehlerspanne einhergeht, ermöglichte es
uns die Verknüpfung dieser Informationen mit den archäologischen Daten,
das Fossil zeitlich zu Beginn des letzten Eiszeitalters einzuordnen.“
Der
Zahn wurde 2007 bei Feldarbeiten unter der Leitung von Miko?aj
Urbanowski, einem Mitautor der Studie, zwischen Tierknochen und einigen
Steinwerkzeugen entdeckt. Die Öffnung der Höhle war für eine
längerfristige Besiedlung wahrscheinlich zu eng, und wurde jeweils nur
für kurze Zeiträume von Neandertalern genutzt. Die Fundstätte könnte ein
logistischer Standort gewesen sein, der bei Streifzügen in das
Krakau-Tschenstochauer Jura genutzt wurde.
„Als die genetische
Analyse ergab, dass der Zahn mindestens etwa 80.000 Jahre alt war, waren
wir begeistert. Fossilien dieses Alters sind sehr schwer zu finden, und
oft ist die DNA dann nicht gut erhalten“, so Wioletta Nowaczewska von
der Universität Wroc?aw und Adam Nadachowski vom Institut für Systematik
und Evolution der Tiere der Polnischen Akademie der Wissenschaften,
Mitpublizierende der Studie. „Anfangs dachten wir, dass der Zahn jünger
sei, da er in einer der oberen Schichten gefunden wurde. Die
Stajnia-Höhle ist eine komplexe Fundstelle mit Frosteinwirkung, die
Artefakte nach ihrer Ablagerung bewegt und Schichten vermischt hat. Wir
waren von dem Ergebnis freudig überrascht“. Bezüglich der
paläoanthropologischen Merkmale des Fundes fügt Mitautor Stefano Benazzi
von der Universität Bologna hinzu: „Die Morphologie des Zahnes ist
typisch für Neandertaler, was auch durch die genetische Analyse
bestätigt wurde. Der abgenutzte Zustand der Krone lässt vermuten, dass
der Zahn einer erwachsenen Person gehörte“.
Neandertaler in periglazialen Umgebungen
Die
Widerstandsfähigkeit der Neandertaler in diesen Regionen und das
Fortbestehen des Micoquiens in einem riesigen Gebiet für mehr als 50.000
Jahre, hat Archäologen lange Zeit verblüfft. Über die taphonomischen
Aspekte hinaus weist das lithische Material von Stajnia eine Reihe von
Merkmalen auf, die mehreren wichtigen Fundstellen in Deutschland, auf
der Krim, im Nordkaukasus und im Altai gemein sind. Diese Ähnlichkeiten
sind wahrscheinlich das Ergebnis der zunehmenden Mobilität von
Neandertalergruppen, die häufig durch die nord- und osteuropäischen
Ebenen zogen, um an die Kälte angepasste Wandertiere zu jagen. Die
Flüsse Prut und Dnjestr wurden von ihnen wahrscheinlich als
Hauptkorridore für die Ausbreitung von Mitteleuropa in den Kaukasus
genutzt. Ähnliche Korridore könnten auch vor etwa 45.000 Jahren benutzt
worden sein, als andere westliche Neandertaler, die
Micoquien-Steinwerkzeuge bei sich trugen, die lokalen Populationen in
der Mesmaiskaja-Höhle im Kaukasus ersetzten.
Sahra Talamo von der
Universität Bologna fasst die weitreichenden Implikationen dieser
Studie zusammen: „Ein multidisziplinärer Ansatz ist immer der beste Weg,
um komplexe archäologische Fundstätten zu untersuchen, wie in dieser
Studie deutlich wird. Das Ergebnis im Falle des Stajina-Neandertalers
ist ein großartiges Beispiel dafür, dass die molekulare Uhr für die
Datierung von Funden, die älter als 55.000 Jahre sind, unglaublich
effektiv ist“.
Quelle: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (09/2020)
Publikation: Andrea Picin et al. New perspectives on Neanderthal dispersal and turnover from Stajnia Cave (Poland) Scientific Reports, 8 September 2020, https://doi.org/10.1038/s41598-020-71504-x