Beweglicher als gedacht - neue Erkenntnisse über das Spikeprotein von SARS-CoV-2
Im Kampf gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 wird intensiv an Impfstoffen und neuen Therapien geforscht. Für das Eindringen in die Zellen benötigt das Virus das Spikeprotein auf seiner Virusoberfläche. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Paul-Ehrlich-Instituts haben im Verbund mit Forschungsgruppen in Deutschland (EMBL in Heidelberg, MPI für Biophysik in Frankfurt) mit hochauflösenden bildgebenden und computergestützten Verfahren das Spikeprotein in seiner natürlichen Umgebung analysiert. Dabei haben sie eine nicht vermutete Bewegungsfreiheit der auf der Virusoberfläche befindlichen Spikes entdeckt.
Das Coronavirus SARS-CoV-2 benötigt die Spikeproteine (S) auf seiner
Oberfläche, um an spezifische Rezeptoren auf der Oberfläche
menschlicher Zellen zu binden und über diesen Weg die Zellen zu
infizieren. Diese stachelförmigen Strukturen stehen im Mittelpunkt der
Entwicklung von Impfstoffen, denn sie sollen als Antigen eine vor
COVID-19 schützende Immunantwort beim Menschen induzieren. Intensiv
untersuchen Forschende das Virus und insbesondere dessen
Oberflächenstruktur, um Erkenntnisse sowohl für die Impfstoffe als auch
für die Entwicklung wirksamer Therapeutika zur Behandlung infizierter
Patientinnen und Patienten zu gewinnen. Von großer Bedeutung ist hierbei
die Kenntnis der räumlichen Strukturen, die für Prozesse wie
beispielsweise das Eindringen in die Zielzellen bedeutsam sind.
Die
Kombination modernster Technologien der Kryo-Elektronentomografie,
Subtomogramm-Mittelung und Molekulardynamik-Simulationen ermöglichen die
strukturelle Analyse von Molekülstrukturen in natürlicher Umgebung und
mit nahezu atomarer Auflösung. Forscherinnen und Forscher des
Paul-Ehrlich-Instituts um Prof. Jacomine Krijnse Locker, Leiterin der
Loewe-Forschungsgruppe „Elektronenmikroskopie von Pathogenen“ haben
gemeinsam mit dem von Priv.-Doz. Michael Mühlebach geleiteten Fachgebiet
im Verbund mit Forschenden des Europäischen Laboratoriums für
Molekularbiologie (EMBL, European Molecular Biology Laboratory), des
Max-Planck-Instituts für Biophysik sowie dem Institut für Biophysik der
Goethe-Universität Frankfurt/Main mit bildgebenden Verfahren und
Simulationsmodellen das Spikeprotein in seiner natürlichen Umgebung
analysiert. Hierfür nutzten sie SARS-CoV-2-Partikel, die aus dem
Überstand infizierter Zellen gewonnen wurden. Mithilfe modernster
Elektronenmikroskopie am EMBL wurden 266 Kryo-Tomogramme von etwa 1000
verschiedenen Viren erstellt, die jeweils durchschnittlich 40 Spikes auf
ihrer Oberfläche trugen. Durch Subtomogramm-Mittelung und
Bildverarbeitung konnten von insgesamt 40.000 Spikes wichtige
Strukturinformationen gewonnen werden.
Ein für die
Impfstoffentwicklung erfreuliches Ergebnis: Der obere Kugel- bzw.
V-förmige Teil des Spikes weist unter natürlichen Bedingungen eine
Struktur auf, die von rekombinanten Proteinen, die für die
Impfstoffentwicklung genutzt werden, gut wiedergegeben wird. Befunde
über den Stiel, mit dem der globuläre Teil des Spikes auf der
Virusoberfläche fixiert ist, waren jedoch neu. Über diese Struktur
war bisher wenig bekannt. Jetzt entdeckten die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, dass der Stiel äußerst flexibel ist. In den Aufnahmen
stand er selten gerade auf der Membran, sondern war in alle Richtungen
geneigt.
Das Team identifizierte vier verschiedene Domänen
(Abschnitte) im Stiel, die sie als „Hüft-“, „Knie“-, „Knöchel“-Domäne
und schließlich als in die Membran eingebettete „Fuß“-Domäne
bezeichneten. Durch Kombination von Molekulardynamik-Simulationen und
Kryo-Tomographie wiesen die Forschenden nach, dass diese Domänen
Biegebewegungen ausführen können. Die Daten zeigen, dass der globuläre
Anteil des Spikes, der den Rezeptorbindungsbereich und die für die
Fusion mit der Zielzelle erforderlichen Bestandteile enthält, mit einem
flexiblen Stiel verbunden ist. „Wie ein Ballon an einer Schnur scheinen
sich die Spikes auf der Oberfläche des Virus zu bewegen und so den
Rezeptor für das Andocken an der Zielzelle suchen zu können“, beschreibt
Prof. Jacomine Krijnse Locker die Ergebnisse. Die Analysen zeigten
schließlich, dass der Stiel mit vielen Glykanketten versehen ist. Diese
könnte dem Stiel eine Art schützenden Mantel verleihen und ihn so vor
neutralisierenden Antikörpern abschirmen. Dies kann jetzt in weiteren
Experimenten geklärt werden und wird zum Verständnis der immunologischen
Eigenschaften des Spikeproteins auf dem Weg zu wirksamen Impfstoffen
beitragen!