Genetische Ursache angeborener Fehlbildung entdeckt |
Spontane Mutationen eines einzigen Gens können vermutlich gravierende Entwicklungsstörungen der Ausscheidungsorgane und Genitalien hervorrufen. Das zeigt eine internationale Studie unter Leitung der Universität Bonn, die in der Fachzeitschrift „Frontiers in Cell and Developmental Biology“ veröffentlicht wird. Die Wissenschaftler verdanken ihre Erkenntnisse auch einem ungewöhnlichen Modell-Organismus: dem Zebrafisch.
Eines von 10.000 Neugeborenen kommt mit Fehlbildungen von Blase, Darm
oder Genitalien auf die Welt. Diese Symptome sind Teil des so genannten
Blasenekstrophie-Epispadie-Komplexes, abgekürzt BEEC. Da die Störung
familiär gehäuft auftritt, nimmt man eine genetische Ursache an.
Uneinigkeit herrschte jedoch bislang darüber, welche Erbanlage genau
betroffen ist oder ob es gar mehrere sind.
Die jetzt erschienene
Studie bringt diesbezüglich Licht ins Dunkel. Bereits vor vier Jahren
hatten Forscher um Prof. Dr. Heiko Reutter vom Institut für Humangenetik
der Universität Bonn ein Gen entdeckt, das in erkrankten Kindern
verändert ist. Die Erbanlage trägt das kryptische Kürzel SLC20A1. „Wir
haben uns seine Funktion nun genauer angeschaut“, erklärt Magdalena
Rieke, die bei Prof. Reutter promoviert.
Die Wissenschaftlerin
nutzte dazu unter anderem die Expertise einer universitären
Arbeitsgruppe, die sich nur ganz am Rande mit angeborenen Fehlbildungen
beschäftigt: Prof. Dr. Benjamin Odermatt erforscht am Institut für
Neuroanatomie die Ursache neurologischer Erkrankungen. Als
Modellorganismus dient ihm dazu der Zebrafisch. Nicht nur, weil er sich
einfach artgerecht halten und schnell vermehren lässt: Viele seiner Gene
kommen in ganz ähnlicher Form auch beim Menschen vor.
Zebrafische als genetisches Modell
Dazu
zählt auch SLC20A1. „Wir haben in den Tieren mit einem Wirkstoff
verhindert, dass das Gen in Proteine übersetzt werden kann“, erklärt
Rieke. „Bei den heranwachsenden Larven war daraufhin unter anderem die
Entwicklung ihrer Ausscheidungsorgane gestört. SLC20A1 scheint also für
die korrekte Bildung dieser Organe tatsächlich eine zentrale Rolle zu
spielen, und das schon seit vielen Millionen Jahren.“ Zusätzlich konnten
die Wissenschaftler zeigen, dass das Gen auch in menschlichen Embryonen
aktiv ist – und zwar vor allem in Strukturen, die an der Bildung der
Ausscheidungsorgane und Genitalien beteiligt sind.
Bei
menschlichen Patienten fanden die Forscher drei verschiedene Mutationen
von SLC20A1. Diese Veränderungen treten häufig spontan neu auf. Daher
können auch Kinder erkranken, deren Eltern völlig gesund sind. In
menschlichen Zellkulturen konnte Rieke zusammen mit ihren Kollegen für
eine dieser Mutationen zeigen, was sie bewirkt: Sie behindert den
kontrollierten Abbau von Zellen – den „programmierten Zelltod“, einen
für den Gewebeumbau sehr wichtigen Schritt.
Bei der
Embryonalentwicklung werden nicht nur massenhaft neue Zellen gebildet,
sondern manche auch ganz gezielt abgetötet. So entsteht beispielsweise
die Öffnung des Darms nach außen, der Anus. Den Prozess des
programmierten Zelltods nennen Forscher Apoptose. „Möglicherweise
erklärt dieser Zusammenhang, warum Mutationen in SLC20A1 so
schwerwiegende Entwicklungsstörungen verursachen können“, spekuliert
Rieke.
Gestörte Proteinfaltung
SLC20A1 enthält die
Bauanleitung eines Proteins, das in der Zellmembran sitzt – der
fettähnlichen Hülle, die die Zellen umgibt. Dieses Protein ähnelt einem
langen Wurm, der seinen Körper in zahlreiche enge Schleifen gelegt hat,
die immer wieder von der Membran-Außenseite nach innen und zurück
verlaufen. Computermodelle legen den Schluss nahe, dass zumindest eine
der entdeckten Mutationen die korrekte Faltung verhindert. Dadurch wird
die Proteinfunktion vermutlich gravierend gestört – und damit auch die
Aktivierung der Apoptose.
Erkenntnisse für die Behandlung von
BEEC lassen sich aus den Ergebnissen noch nicht direkt ableiten. „Für
eine mögliche Prävention oder Therapie ist es aber essentiell, dass wir
den Krankheitsmechanismus besser verstehen“, betont Rieke, die selbst
als Assistenzärztin in der Kinder- und Jugendmedizin arbeitet. An der
Studie waren neben verschiedenen Bonner und deutschen Arbeitsgruppen
auch Forschungseinrichtungen aus Schweden, Großbritannien, Italien,
Indien und den Niederlanden beteiligt. Sie ist damit auch ein Beispiel
für eine gelungene internationale Kooperation.
Den Artikel finden Sie unter:
https://www.uni-bonn.de/neues/169-2020
Quelle: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (08/2020) |