Organisiertes Chaos im Enzymkomplex: überraschende Einsichten und neue Angriffspunkte
Für Eiweißmoleküle, die Substanzen für den Stoffwechsel umwandeln, ist es oft entscheidend, wie sie mit den anderen Komponenten ihres Stoffwechselwegs interagieren. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen haben einen natürlichen Enzymkomplex untersucht, der zehn Enzyme mit fünf unterschiedlichen Aktivitäten zusammenfasst. Das Ergebnis: Die Struktur ist erstaunlich kompakt und bietet den einzelnen Enzymen dennoch die maximale Flexibilität. Diese Architektur eröffnet neue Perspektiven für die Wirkstoffforschung. Ihre Ergebnisse veröffentlichen die Wissenschaftler jetzt in nature chemical biology.
Stoffwechselwege sehen im Lehrbuch immer ein wenig nach Fließbandarbeit
aus. Wie auf einer Perlenschnur reiht sich in den Abbildungen ein Enzym
an das andere. Zwischenprodukte werden abtransportiert oder von einer
Station an die andere weitergereicht. „So geordnet läuft es in der Zelle
jedoch meist nicht ab“, sagt Marcus Hartmann, Gruppenleiter am
Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie. „Die einzelnen Komponenten
eines Stoffwechselwegs können sich an sehr unterschiedlichen Stellen in
der Zelle befinden, und in den meisten Fällen verstehen wir nicht, ob
und wie sie sich zu geordneten Strukturen zusammenfinden.“
Wer
die Funktion und Dynamik von Stoffwechselwegen verstehen will, muss sich
deshalb mit dem Zusammenspiel und den Hierarchien der einzelnen
Komponenten auseinander setzen. Nur so lässt sich das Gesamtbild
erfassen.
Unter diesem Aspekt haben Hartmann und sein Team einen
sonst gut untersuchten Stoffwechselweg unter die Lupe genommen: Den
Shikimat-Weg. Dabei handelt es sich um einen Stoffwechselweg, der in
Pflanzen und Mikroorganismen einschließlich pathogener Pilze und
parasitärer Protisten wie den Erregern von Toxoplasmose oder Malaria
vorkommt. Seine Aufgabe ist es unter anderem, Vorstufen der für Tiere
und Menschen essentiellen Aminosäuren Phenylalanin, Tyrosin und
Tryptophan zu synthetisieren. Traurige Berühmtheit erlangte der
Stoffwechselweg dadurch, dass das Herbizid Glyphosat hier eingreift.
Das
Interessante für die Tübinger Forscher: Während in Pflanzen- und
Bakterienzellen die meisten Enzyme des Shikimat-Wegs einzeln vorliegen,
sind bei Pilzen und Protisten fünf der sieben Komponenten in einem
großen Enzymkomplex zusammengelagert, AROM genannt. „Wir wollten wissen,
wie dieser große Komplex aufgebaut ist, und welchen Vorteil diese
Organismen aus ihm ziehen“, sagt Hartmann. „Ob die Katalyse im Komplex
beispielsweise effizienter ist.“
Den Wissenschaftlern gelang es, eine Kristallstruktur des gesamten Proteinkomplexes aufzuklären. Dabei
zeigte sich, dass sich die fünf Enzymkomponenten in doppelter
Ausführung zu einem kompakten Gebilde mit insgesamt zehn Komponenten auf
engstem Raum zusammenfügen. „Eine derart kompakte Architektur hatten
wir nicht erwartet“, sagt Hartmann. „Viele Enzyme des Shikimat-Wegs
brauchen für ihre Arbeit recht viel Bewegungsfreiheit.“
Dank
einer ausgefeilten Architektur ist der verfügbare Platz im AROM Komplex
jedoch ausreichend. Zwar hatten die Wissenschaftler mit der
Kristallstruktur lediglich eine Momentaufnahme zur Verfügung. „Aber die
einzelnen Komponenten sind so gut untersucht, dass wir im Computermodell
simulieren können, wie sie sich innerhalb des Komplexes bewegen“,
erklärt der Wissenschaftler. Dabei stellte sich heraus, dass der
notwendige Bewegungsfreiraum für die einzelnen Enzyme so zugeschnitten
ist, dass sie sich unabhängig voneinander bewegen können, ohne mit den
anderen Komponenten zu kollidieren. „Tatsächlich haben wir keine
Hinweise für eine Koordination der einzelnen Enzymbewegungen“, so
Harshul Arora Verasztó, Erstautorin der Studie. „Es ist eher eine Form
von organisiertem Chaos.“
Bei weiteren Untersuchungen stellte
sich heraus, dass die bloße Zusammenlagerung der Enzyme zum AROM Komplex
alleine keinen katalytischen Vorteil für den Shikimat-Weg der Pilze
bietet – zumindest auf der Grundlage bisheriger Daten. „Ein Vergleich
unter Laborbedingungen hat ergeben, dass der Durchsatz im Komplex nicht
höher ist, als wenn die Komponenten einzeln vorliegen“, so Hartmann.
„Gerade für Biotechnologen, die versuchen, durch Zusammenlagerung von
Enzymen die Effizienz katalytischer Kaskaden zu erhöhen, mag das eine
überraschende Nachricht sein.“
Die Ergebnisse der Tübinger
Wissenschaftler dienen zunächst einmal der Grundlagenforschung – dem
Erkenntnisgewinn darüber, wie Enzyme und insbesondere Enzymkomplexe in
Stoffwechselwegen zusammenspielen. Gleichzeitig aber eröffnen sie völlig
neue Perspektiven für die Wirkstoffforschung. „Die enge Anordnung der
besonders flexiblen Enzymkomponenten im AROM Komplex ist hierfür
besonders interessant“, erläutert Hartmann. Meist greifen Wirkstoffe an
den katalytischen Zentren an, also an der Stelle, an der Enzyme
Substanzen umwandeln. „Für den AROM Komplex wäre es denkbar, nach
Substanzen zu suchen, die sich wie ein Keil zwischen die Komponenten
schieben und sie so blockieren.“ Gelänge das, ließen sich Hemmstoffe
entwickeln, die ausschließlich bei Pilzen oder Protisten, etwa den
Erregern von Toxoplasmose oder Malaria, wirken, den Shikimat-Weg von
Pflanzen und Bakterien jedoch nicht beeinträchtigen.
Quelle: Informationsdienst Wissenschaft e. V. / Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie (07/2020)
Publikation: Verasztó HA, Logotheti M, Albrecht R, et al. Architecture and functional dynamics of the pentafunctional AROM complex. Nat. Chem. Biol. DOI 10.1038/s41589-020-0587-9