Die gefährliche Doppelrolle des Immunsystems bei COVID-19
Die Infektion mit dem neuen Coronavirus SARS-CoV-2 verläuft höchst unterschiedlich: Manche Betroffene merken gar nicht, dass sie infiziert sind, andere erkranken so schwer, dass ihr Leben in Gefahr ist. Wissenschaftler*innen vom Berlin Institute of Health (BIH), der Charité – Universitätsmedizin Berlin sowie Kolleg*innen aus Leipzig und Heidelberg haben nun herausgefunden, dass das Immunsystem gelegentlich über das Ziel hinaus schießt und mit seiner übersteigerten Reaktion teilweise größeren Schaden anrichtet als das Virus selbst. Ihre Ergebnisse haben die Forscher*innen nun in der Zeitschrift Nature Biotechnology beschrieben.
Die meisten Infektionen mit SARS-CoV-2 verlaufen harmlos: Viele
Infizierte klagen lediglich über leichte bis schwere Erkältungssymptome
oder merken gar nicht, dass sie infiziert sind. Andere Menschen
erkranken dagegen so schwer an COVID-19, dass sie auf der
Intensivstation versorgt werden müssen. Schon bevor die ersten COVID-19
Patienten in der Charité versorgt wurden, hat daher BIH Chair, Professor
Roland Eils, Gründungsdirektor des Digital Health Center des BIH,
zusammen mit BIH Professorin Irina Lehmann, Leiterin der Arbeitsgruppe
Molekulare Epidemiologie am BIH, eine Studie initiiert, um die
molekularen und zellulären Ursachen von COVID-19 zu erforschen. „Wir
haben vermutet, dass bei den unterschiedlichen Krankheitsverläufen das
körpereigene Immunsystem eine Rolle spielt. Und das wollten wir gern
genauer verstehen“, sagt Irina Lehmann.
Eils und sein Team rund
um Dr. Christian Conrad setzten dabei auf sogenannte Einzelzellanalysen,
um jede einzelne Zelle, die aus den Atemwegen von COVID-19
Patient*innen gewonnen wurde, untersuchen zu können. Denn jede Zelle
reagiert anders auf die Infektion und liefert individuelle Informationen
zum Krankheitsgeschehen, abzulesen an der individuellen Antwort
Tausender Gene in jeder Zelle.
COVID-19 Patientinnen und Patienten aus Berlin und Leipzig
Die
Patient*innen für diese Studie wurden an der Charité –
Universitätsmedizin Berlin im Rahmen der PA-COVID-19 Studie rekrutiert.
Prof. Leif-Erik Sander, der an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt
Infektiologie und Pneumologie der Charité die COVID-19-Patient*innen
behandelte und die PA-COVID-19 Studie an der Charité leitet, war auch an
der Einzelzellstudie in Berlin maßgeblich beteiligt. Auch das
Universitätsklinikum Leipzig beteiligte sich an der Studie. Hier wurden
die Patient*innen durch Dr. Sven Laudi, den leitenden Oberarzt für
Intensivmedizin der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und
Intensivtherapie, geleitet. Insgesamt wurden Proben von 19 COVID-19
Patient*innen und von fünf gesunden Kontrollprobanden untersucht. Acht
der COVID-19 Patient*innen zeigten einen eher moderaten, elf einen
kritischen Krankheitsverlauf. „Die Proben stammten aus dem
Nasen-Rachenraum, von zwei Patienten zusätzlich aus den Bronchien. Von
fünf Patienten konnten wir mehrmals Proben gewinnen, so dass wir die
Möglichkeit hatten, den Verlauf der Erkrankung im selben Patienten zu
verfolgen“, berichtet Leif-Erik Sander. 160.000 Zellen analysiert
„Aus
dem Probenmaterial haben wir im S3-Labor des Instituts für Virologie
der Charité unter höchsten Sicherheitsbedingungen Zellen isoliert und
insgesamt 160.528 Zellen sequenziert“, schildern Robert Lorenz Chua und
Dr. Soeren Lukassen vom Digital Health Center des BIH die Mammutaufgabe,
die es zu bewältigen galt. „In den Proben fanden wir neben Immunzellen
vor allem Zellen aus der obersten Schicht der Atemwege, also
verschiedene Epithelzellen. Aus diesen haben wir die RNA isoliert, die
das Viruserbgut enthält, aber auch die Abschriften der aktiven Gene der
menschlichen Zellen. Basierend auf diesen Daten und klinischen
Informationen konnten wir den Ablauf der Infektion auf Einzelzellebene
präzise nachvollziehen.“
Hilferuf ans Immunsystem
Das
SARS-CoV-2 gelangt in die Zellen, indem es sich an deren ACE2-Rezeptor
heftet. „Wir haben gesehen, dass der ACE2-Rezeptor in den Epithelzellen
der COVID-19-Patienten doppelt bis dreimal so stark exprimiert ist wie
in den Epithelzellen der nicht-infizierten Kontroll-Probanden“, erklärt
Christian Conrad. Die infizierten Zellen senden daraufhin einen
„Hilferuf“ an das Immunsystem und locken Immunzellen an, die helfen, die
Infektion zu bekämpfen, indem sie die infizierten Epithelzellen gezielt
abtöten und das Virus neutralisieren. Interessanterweise trägt
ausgerechnet der Immunbotenstoff Interferon, der eigentlich eine
zentrale Abwehrstrategie des Immunsystems gegen Virusinfektionen ist, im
Fall von COVID-19 dazu bei, dass die Epithelzellen mehr ACE2 bilden und
damit verwundbarer für eine Virusinfektion werden“, berichtet Irina
Lehmann. Die Immunologin fügt hinzu: „Im Fall von COVID-19 hilft das
Immunsystem so dem Virus, weitere Zellen zu infizieren und verstärkt
somit die Erkrankung.“ Außerdem beobachteten die Wissenschaftler*innen,
dass insbesondere bei schwer erkrankten Patient*innen die Immunzellen
mit einer überschießenden Entzündung reagieren.
Unheilvolle Allianz zwischen Virus und Immunsystem
„Die
Einzelzell-Analysen haben sehr deutlich gezeigt, dass das Virus eine
unheilvolle Allianz mit dem Immunsystem des Patienten eingeht“, erklärt
Roland Eils. „Speziell bei schwer erkrankten Patienten haben wir
beobachtet, dass das überreagierende Immunsystem die Zerstörung des
Lungengewebes vorantreibt. Das könnte erklären, warum diese Patienten
stärker von der Infektion betroffen sind als Patient*innen, bei denen
das Immunsystem angemessen reagiert.“ Und Leif-Erik Sander ergänzt:
„Diese Ergebnisse legen nahe, unsere Behandlungen bei COVID-19
Patient*innen nicht nur gegen das Virus selbst zu richten, sondern auch
Therapien in Betracht zu ziehen, die das Immunsystem in seine Schranken
weisen, wie dies z.B. jetzt mit Dexamethason geschieht. Möglicherweise
sogar bereits zu Beginn der Erkrankung, um ein Überschießen des
Immunsystems zu verhindern.“